Daten lesen lernen
In unserer Blogreihe zu digitalen Zivilgesellschaft wollen wir zeigen, was die digitale Zivilgesellschaft für eine wertvolle Arbeit leistet und wie diese Arbeit aussieht. Zum ersten Teil geht es hier.
Im zweiten Teil wollen wir nun wie versprochen konkrete Projekte und die Menschen, die sie umsetzen, vorstellen. Dies tun wir – wie könnte es anders sein – entlang der vier Grundsäulen, die die Arbeit des Prototype Fund bestimmen: Civic Tech, Datensicherheit, Softwareinfrastruktur und Data Literacy. Denn diese sind die Ebenen, die für eine aktive digitale Zivilgesellschaft wichtig sind.
Während Civic Tech den Einsatz von Technologie für die Ermächtigung der Bürger*innen beinhaltet, geht es bei Datensicherheit um Tools und Infrastrukturen, welche den Nutzer*innen informationelle Selbstbestimmung ermöglichen. Softwareinfrastruktur ist uns wichtig, weil es bei Public Interest Tech eben nicht nur um konkrete Anwendungen geht, sondern auch um deren Grundlage, wie z. B. sichere und unabhängige Kommunikationsinfrastrukturen. Als Data Literacy (oder auch Datenkompetenz) wird die Fähigkeit bezeichnet, mit Daten kompetent umzugehen. Das beinhaltet unter anderem, Daten zu erfassen, zu interpretieren und zu präsentieren – eine Kompetenz, die immer wichtiger wird. Und darum geht es in diesem Blogpost.
Darum geht es bei Data Literacy
Aktuell sehen wir uns noch mehr als gewöhnlich mit Informationen in Form von Zahlen, Statistiken und (vermeintlichen) Korrelationen und der Notwendigkeit, uns mit ihnen auseinanderzusetzen, konfrontiert: Die R-Zahl, “flatten the curve” oder die Auslastung der Intensivbetten in Krankenhäusern sind Begriffe, die wir vor ein paar Monaten noch nicht kannten – und die nun fester Bestandteil unseres Alltags sind. Aber auch sonst sind die Darstellung von Daten in Diagrammen oder das tägliche Hantieren mit Zahlen Dinge, die selbstverständlich zu unserem Leben gehören.
Daten müssen in besonderer Weise aufbereitet und angereichert werden. Damit Schlüsse aus ihnen gezogen werden und Menschen mit ihnen arbeiten können, ist es essenziell, dass Daten gekonnt erfasst, verwaltet, gelesen, analysiert, ausgewählt, geordnet, präsentiert und angewendet werden. Genau dies leistet die digitale Zivilgesellschaft mit Projekten im Bereich Data Literacy. Einer der Pioniere in diesem Bereich ist das Open-Source-Projekt Explorable Explanations.
Data-Literacy-Projekte können der Gesellschaft dabei helfen, Informationen besser einzuordnen und zu verstehen. Gleichzeitig ermutigen sie zur eigenständigen Auseinandersetzung mit scheinbar neutralen Informationen und stärken so die (digitale) Mündigkeit der Gesellschaft. Denn obwohl es zu jeder Zeit der Fall ist, merken wir in der aktuellen Situation besonders, wie schädlich es für jede*n Einzelne*n aber auch die gesamte Gesellschaft sein kann, wenn Daten irreführend präsentiert werden und daraus Unsicherheiten entstehen.
Wie gut verstehen wir Daten und Statistiken?
Manche Menschen erlangen zumindest grundlegende Kompetenzen dafür in der Schule oder während des Studiums. Viele fühlen sich jedoch im Umgang mit Daten nicht sicher und tatsächlich sind bloße Zahlenreihen oft schwieriger und nicht intuitiv zu verstehen, anders als vielleicht andere Arten von Informationen. Auch können bestimmte Arten der Datendarstellung in die Irre führen. Darüber hinaus wird oft vergessen, dass Datenvisualisierungen, z. B. in Form von Statistiken, wie alle anderen Arten von aufbereiteten Informationen auch nur das zeigen, was die Autor*innen zeigen wollen – und dass auch Zahlen manipuliert werden können.
Oft sind auch Informationsquellen nicht eindeutig zu erkennen. Data-Literacy-Projekte legen ihre Quellen transparent dar und ermöglichen eine unabhängige Überprüfung ihrer Darstellungen. Dafür sind sie unter anderem auf Offene Daten angewiesen, welche die Grundlage für zahlreiche Projekte im Bereich Data Literacy bilden.
Die zahlreichen Data-Literacy-Projekte, die aus der digitalen Zivilgesellschaft kommen, wirken Missinformation auf individueller und gesellschaflicher Ebene und Intransparenz entgegen. Sie unterscheiden sich dabei von “klassischen” Journalist*innen und Medien z. B. insofern, dass ihre Herangehensweise oft sehr viel partizipativer ist und natürlich dadurch, dass ihre Arbeit ehrenamtlich ist. Gleichzeitig unterstützen sie Journalist*innen mit ihrer Arbeit, wenn sie beispielsweise Tools entwickeln, welche Journalist*innen dann zur Recherche nutzen (mehr dazu im Interview am Ende des Artikels). Hier sind einige Projekte zu Data Literacy, wir mit dem Prototype Fund gefördert haben.
Mieten, Regionaldaten und Fördergelder – die Data-Literacy-Projekte
Mietenwatch scraped öffentlich zugängliche Daten von Immobilienplattformen, wertet sie aus und bereitet sie so auf, dass Nutzer*innen sich ein umfassendes Bild der Mietpreisentwicklung und anderer Indikatoren, die den Mietmarkt betreffen, machen können.
Zahlreiche Gemeinden in der EU erhalten Gelder von dem Staatenverbund. Eurospent sammelt die Daten dazu von nationalen Webseiten und bereitet sie auf einer interaktiven Karte auf. So kann jede*r sehen, wie viel Geld Gemeinden von der EU bekommen.
Von Zahlen zur Arbeitslosigkeit bis zur Tierhaltung in der Landwirtschaft erfassen statistische Landesämter kontinuierlich große Datenmengen auf lokaler Ebene. Es ist aber kaum möglich, diese Daten sinnvoll einzusetzen, obwohl sie theoretisch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Datengui.de stellt deswegen statistische Regionaldaten klar und prägnant dar, macht sie vergleichbar und setzt sie in Kontext.
Und auch für die Menschen, denen Zahlen und Daten bisher eher Unbehagen bereiten, gibt es Hilfe: Explorable Explanations – Statistik spielerisch erlebbar machen machen haptisch, visuell und spielerisch erfahrbar, wie Statistiken erhoben werden und zeigen typische Fallstricke von Darstellungsformen auf. So wird das Thema Daten Menschen auf unterhaltsame Weise näher gebracht – ein großer Schritt in Richtung Data Literacy und digitale Mündigkeit.
Wie diese Beispiele zeigen, ist Data Literacy für eine Vielzahl von Bereichen relevant. Noch mehr Einblicke in die Arbeit an Data-Literacy-Projekten kann Simon Wörpel geben.
Das sagt der Datenjournalist
Simon ist Datenjournalist und hat bereits an mehreren Projekten zum Thema Data Literacy mitgewirkt, die durch den Prototype Fund gefördert wurden. Wir haben ihm ein paar Fragen gestellt.
Du arbeitest als Datenjournalist – was hat dich dazu bewogen, dich auch in deiner Freizeit mit dem Thema zu beschäftigen und ehrenamtlich Projekte wie Follow the Grant oder den Datengui.de durchzuführen?
Viele Data-Literacy-Projekte entstehen einfach aus einer Not heraus: Man braucht einen Zugang zu Daten, den es so noch nicht oder nur sehr umständlich gibt. Gerade Datenjournalist*innen begegnet das in der alltäglichen Arbeit oft und dann müssen sie selbst aktiv werden – auch wenn es mitunter gar nicht ihre Aufgabe ist. So ist zum Beispiel das Projekt Datengui.de entstanden – wir brauchten endlich mal eine vernünftige API an die Regionalstatistiken. Die Motivation für solche Projekte entsteht also oft aus eigenem Frust über die bestehenden Lösungen, so ist es zumindest bei mir.
Viele Menschen sind von Informationen in Formen von Zahlen oder Statistiken abgeschreckt. Auf welchem Wege kann man dem begegnen und Menschen, wenn schon nicht für Daten begeistern, so doch zu einer Annäherung an die Beschäftigung mit dem Thema ermutigen?
Zunächst wäre es mein Anspruch an unsere Arbeit als Datenjournalist*innen, mit unseren Geschichten – die naturgemäß manchmal mehr Zahlenwerk enthalten – niemanden abzuschrecken. Den erfüllen wir aber sicherlich nicht so oft.
Einige Projekte versuchen es über den spielerischen Weg: Drehe an einem Rädchen hier, dann siehst du, wie sich die Durchschnittsmiete verändert, oder sowas. Gerade in den vergangenen Wochen haben wir gesehen, wie wichtig Zahlen und Statistiken sind und wie sich plötzlich viel mehr Menschen damit beschäftigen und begeisterten (was nicht zu selten auch nach hinten losgeht). Ich würde gerne schaffen, Datenthemen mehr zu „vermenscheln“ – eigentlich eine ganz klassische journalistische Methode, die zuverlässig funktioniert. Es ist ein Unterschied, ob wir versuchen, abstrakte Zahlen und Statistiken möglichst „verständlich“ rüberzubringen, oder einfach die Geschichten über die Menschen, die konkret betroffen sind, recherchieren, und diese auch zu Wort kommen zu lassen.
Du hast bereits mehrere Projektskizzen erfolgreich beim Prototype Fund eingereicht und konntest dich mit der Förderung in Vollzeit auf deine Projekte konzentrieren. Auf welche zusätzliche Weise kann die digitale Zivilgesellschaft deiner Meinung nach gefördert und unterstützt werden?
Ich finde es großartig, wie es z. B. der Prototype Fund schafft, so große Fördersummen für dieses Thema klarzumachen. Oft gibt es in diesem Bereich ja viel kleinere Förderungen, mit denen man leider nicht so weit kommt.
Grundsätzlich sehe ich die Verantwortung aber auch woanders – einige geförderte Projekte sind bittere Beispiele: Viele Projekte müssen erstmal viel Aufwand investieren, z. B. um „offene“ Daten wirklich zu öffnen. Dann bleibt die tatsächliche Nutzung oft auf der Strecke, weil die Projekte schon mit dieser ersten Aufgabe vollständig ausgelastet sind. Wenn wir alle nicht die ganze Zeit damit beschäftigt wären, diese Probleme zu lösen, könnten wir noch ganz andere Dinge bauen.
Der Staat könnte also die digitale Zivilgesellschaft nicht nur mit „noch mehr Geld“ fördern, sondern von Anfang an bessere Infrastruktur anbieten, was vor allem maschinenlesbare Datenzugänge und Lizenzfragen betrifft, um die Arbeit an den ganzen tollen Projekten wesentlich zu vereinfachen.
Hier geht es zum dritten Teil.