09.Sep 2024

Life in plastic: not fantastic

Nach aktuellen Prognosen wird es bis 2050 mehr Tonnen Plastik als Fisch im Ozean geben. Diese oder ähnliche schockierenden Zahlen hat vermutlich jede*r schon mal gehört – doch was tun?
Ein Gastbeitrag von Emely Henninger vom Projekt Ocean Eco Watch über die Möglichkeiten von Open Source Software, etwas in der „echten Welt“ zu verändern. Dafür wertet das Projekt automatisiert Satellitendaten aus, um Plastikmüll in Küstenregionen zu erkennen.

Die Plastikkrise – das Problem ist größer als gedacht

Meeresmüll in Küstenregionen erkennen: Das klang am Anfang nach einer verlockenden technischen Herausforderung. Eine Art Google Maps mit Meeresmüll statt Straßen sollte es werden. Doch je tiefer wir uns mit der Plastikkrise auseinandersetzen, desto mehr packte und schockierte das Thema auch abseits der rein technischen Aspekte. Eine Studie von Deloitte schätzt, dass Plastikverschmutzung die globale Wirtschaft jährlich bis zu 19 Milliarden US-Dollar kostet.

Diese enormen Kosten entstehen durch die negativen Auswirkungen auf Fischerei, Aquakultur, Tourismus und durch notwendige staatliche Reinigungsmaßnahmen. Jährlich produziert die Menschheit über 400 Millionen Tonnen Plastik – eine Menge, die in etwa dem Gewicht der gesamten Weltbevölkerung entspricht. Und diese Zahl wird voraussichtlich noch weiter steigen.

Obwohl weniger als 0,5 Prozent des jährlich produzierten Plastiks tatsächlich in die Ozeane gelangt, entspricht das immer noch über einer Million Tonnen Plastikmüll, der unsere Meere verschmutzt – eine beachtliche Menge, die verheerende Folgen für die Meeresumwelt hat.

Denn es dauert ganze 450 Jahre, bis sich eine einzelne PET-Flasche in Mikroplastik zersetzt hat. Dann ist sie aber nicht – wie organische Stoffe – vollständig abgebaut, sondern zerfällt immer weiter in kleinere Partikel, sogenannte Nanoplastik, die über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende in der Umwelt verbleiben können.

Plastik- und Klimakrise hängen zusammen

Ein oft übersehenes und in der politischen Diskussion weitgehend unbeachtetes Problem im Zusammenhang mit der Plastikverschmutzung ist der sinkende Sauerstoffgehalt in den Ozeanen. Forschungen an Prochlorococcus, einem der häufigsten Bakterien im Meer, das für einen bedeutenden Teil der weltweiten Sauerstoffproduktion verantwortlich ist, zeigen, dass austretende Giftstoffe aus Plastik diese Sauerstoffproduktion und die Fortpflanzung des Bakteriums erheblich beeinträchtigen können. Dies stellt eine direkte Bedrohung für das marine Ökosystem und das globale Sauerstoffniveau dar.

Darüber hinaus spielen die Ozeane eine entscheidende Rolle im Kohlenstoffkreislauf, indem sie Kohlenstoff in den Meeresboden transportieren. Zooplankton, das Mikroplastik aufnimmt, verstoffwechselt etwa 40 Prozent weniger Kohlenstoff-Biomasse. Zudem sinken die Kotpillen des Zooplanktons langsamer, wenn es erhebliche Mengen an Mikroplastik konsumiert. Dies könnte den natürlichen Kohlenstoffkreislauf erheblich stören und zur Verschärfung der Klimakrise beitragen.

Woher das Plastik kommt und wo es sich sammelt

In Industrieländern wird zwar viel Plastik verbraucht, doch verhindern effektive Abfallwirtschaftssysteme weitgehend, dass dieser Müll in die Umwelt gelangt. Leider kommt es immer wieder vor, dass Plastikmüll illegal in Schwellen- und Entwicklungsländer exportiert wird. Dort ist der lokale Plastikverbrauch zwar geringer, aber die oft unzureichende Infrastruktur zur Abfallentsorgung führt dazu, dass dennoch erhebliche Mengen an Plastikmüll in die Meere gelangen.

Nahezu die Hälfte des Plastiks sinkt aufgrund seiner geringen Auftriebskraft direkt ab. Von dem Plastik, das an der Oberfläche bleibt, wird etwa 80 Prozent innerhalb eines Monats nach dem Eintritt ins Meer an einer Küste angespült. Der verbleibende Rest landet früher oder später in einem der großen Müllstrudel. Der größte davon ist der Große Pazifische Müllstrudel (Great Pacific Garbage Patch), der sich zwischen Hawaii und Kalifornien erstreckt und auf das dreifache der Fläche Frankreichs geschätzt wird. Es ist jedoch ein Irrglaube, dass der Müllstrudel eine feste Insel aus Abfall bildet. Tatsächlich handelt es sich eher um eine „Plastiksuppe“. Schätzungen zufolge treiben etwa 10.000 Tonnen Plastik in diesem Müllstrudel, der aus rund 1,8 Billionen (1.800.000.000.000) Teilen besteht, die größer als 0,5 mm sind.

“Drecksarbeit“ machen – aber wie?

Die Reinigung des Great Pacific Garbage Patches ist eine extrem schwierige und kostspielige Aufgabe. Boote müssen weit in den Pazifik hinausfahren und das „Plastikfischen“ gestaltet sich komplex, da das Plastik oft knapp unter der Meeresoberfläche schwebt und es schwierig zu entfernen ist, ohne dabei Meereslebewesen zu gefährden.

Aus diesem Grund verlagert sich der Fokus zunehmend auf küstennahe Gebiete, wo effizientere Ergebnisse erzielt werden können. Etwa 80 Prozent des Meeresmülls stammen von Landquellen, und davon sind wiederum rund 80 Prozent Plastik, das sich in Küstenregionen ansammelt, bevor es ins offene Meer gelangt. Es ist deutlich effizienter und einfacher, diesen Müll schon dort zu entfernen.

Besonders effektiv haben sich dabei Fluss-Interzeptoren erwiesen, die bereits von Organisationen wie The Ocean Cleanup und River Recycle eingesetzt werden. Diese Systeme fangen den Müll in Flüssen ab, bevor er überhaupt ins Meer gelangt. Solche Projekte erfordern jedoch erhebliche finanzielle Mittel. River Recycle beispielsweise spricht von einem Mindestbudget von einer Million Euro, um ein solches Projekt nachhaltig zu starten. Dieses Budget umfasst die Installation des Interzeptors, die Schulung des Personals für die Müllsammlung, das Recycling des gesammelten Abfalls sowie die Aufklärungsarbeit in der lokalen Bevölkerung.

Die finanziellen Herausforderungen wurden besonders deutlich, als The SeaCleaners, eine Organisation, die weltweit Küstenregionen mit einem Boot abfuhr, Insolvenz anmelden musste. Ausgetauscht haben wir uns auch mit der deutschen Organisation One Earth – One Ocean (OEOO), die seit über 10 Jahren Plastik in Küstengebieten sammelt. Da diese Organisation mit Booten in verschiedenen Größen Plastik in Küstenregionen und Flüssen einsammelt, wäre ein Plastiküberwachungssystem ein ideales Tool. In der Vergangenheit wurde ein solches System bereits eingesetzt, jedoch stellte sich die langfristige Finanzierung für die Organisation als nicht tragbar heraus.

Was tun? Open Source!

Mit Ocean Eco Watch haben wir das Ziel, ein End-to-End-System für die Echtzeit-Analyse von Plastikmüll in Küstenregionen zu entwickeln. Dazu haben wir die besten verfügbaren Open-Source-Modelle zur Erkennung von Meeresmüll verglichen, ausgewählt und in eine Webanwendung integriert. Diese Modelle sollten in der Lage sein, Reflexionsmuster von Wasser und Meeresmüll zu erkennen, indem sie nicht nur die für das menschlichen Auge sichtbaren Spektralbänder (rotes, grünes und blaues Licht) von Satellitenbildern nutzen, sondern auch Infrarotdaten aus insgesamt 13 Bändern – wobei das Infrarotspektrum besonders relevant ist. 

Screenshot eines Satellitenbilds, darauf ist Meer zu sehen. Im Meer "schwimmen" gelbe bis röätliche Graphiken, eine Art Heat-Map

Hierfür nutzten wir den Sentinel-2-Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation ESA, auf dessen Daten über den Sentinel Hub zugegriffen werden kann.

Wir wollten die Modelle so bereitstellen, dass die Analyse der Satellitenbilder sehr schnell erfolgt. Dafür entwickelten wir eine Anwendung, die auf Anfrage Satellitenbilder einer bestimmten Region und zu einer bestimmten Zeit von Sentinel Hub abruft, die Bilder zuschneidet und die Analyse in kleineren Teilabschnitten parallel durchführt. Die Ergebnisse wurden in einer Datenbank gespeichert, wobei wir die unterschiedlichen Ausgabeformate der Modelle und die enormen Datenmengen berücksichtigen mussten. Im Backend wurden die Daten abgerufen und schließlich in einem benutzerfreundlichen, interaktiven Frontend auf einer Karte dargestellt.

Zusätzlich integrierten wir Klassen wie Wolken, da diese die Genauigkeit der Vorhersagen beeinträchtigen können. Zum Ende der Förderung durch den Prototype Fund können wir auch sagen, dass uns das, trotz anfänglicher Bugs, ganz gut gelungen ist.

Während der Entwicklung unseres Projekts stießen wir auf mehrere Herausforderungen: Ein großes Problem war die lange Zeitspanne zwischen der Aufnahme eines Bildes durch den Satelliten und dessen Verfügbarkeit für den Download (Aquisitionszeit). Bei Sentinel-2 beträgt diese Zeit zwischen 6 und 12 Stunden, was die Echtzeit-Analyse erschwert. Diese Verzögerung entsteht, weil Satelliten ihre Daten nicht kontinuierlich zur Erde senden können, sondern nur dann, wenn sie sich über einer Bodenstation befinden.
 Besonders in stark verschmutzten Gebieten wie der Manila Bay, wo der Meeresmüll innerhalb einer Stunde bereits weitergetrieben wird, stellte dies ein erhebliches Hindernis dar. Wir prüften alternative Satellitenanbieter wie Airbus, die eine Aquisitionszeit von weniger als einer Stunde bieten, doch die Kosten von rund 3000 € pro Bild machten diese Option für Cleanup-Organisationen untragbar.

Der Austausch mit Regierungsorganisationen wie der UNESCAP (United Nations Economic and Social Commission for Asia and the Pacific) gestaltet sich leider als sehr schleppend. Aufgrund der langsamen Reaktionszeiten und der unterschiedlichen Zeitrahmen, in denen diese Organisationen arbeiten, haben wir bislang noch kein konkretes Projekt ins Rollen bringen können.

Rückblickend würden wir in Zukunft mehr Energie in den Austausch mit Cleanup-Organisationen investieren, bevor wir mit der Softwareentwicklung beginnen. So könnten wir frühzeitig deren Bedürfnisse besser verstehen und das System gezielter darauf abstimmen.

Ausgezahlt hingegen hat sich die Modularität unserer Software. Sie ermöglicht es, Modelle leicht auszutauschen oder das System für andere Umweltüberwachungen, wie etwa Ölverschmutzungen, anzupassen. Dies macht unser System flexibel. Langzeitmonitoring und Statistiken werden immer wichtiger, besonders da die EU solche Maßnahmen verstärkt durchsetzen will.


Foto von vier Personen, die auf der Rückenlehne eines Sofas sitzen. Über ihnen in Neon-Röhren leuchtend "Code", dabei besteht das "o" aus <>.
Das Team hinter Ocean Eco Watch

 Emely Henninger ist Software Engineerin aus Berlin und momentan technical student beim Forschungszentrum CERN. In einer Semesterarbeit an der CODE Universität kam erstmals die Idee zu Ocean Eco Watch auf und das Team wurde in der 15. Runde Prototype Fund gefördert. Sie freuen sich über Feedback, Ideen und Beiträge jeglicher Art, außerdem über Hinweise per E-Mail, falls ihr eine bestimmte Region auf Plastik untersuchen wollt.

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