22.Feb 2024

Dezentral Streamen mit Shig

Streaming ist aus unserem Medienkonsum nicht mehr wegzudenken. Nach Spotify und Netflix kamen Tidal, Apple Music, Disney+, PrimeVideo und viele mehr. Aber auch Privatpersonen erstellen mehr und mehr Content auf Youtube oder streamen live auf Twitch. Doch es muss nicht immer ein kommerzieller Anbieter mit großen Serverfarmen sein. Enrico vom Projekt Shig erklärt uns, wie es anders geht.

Was hast du mit Shig genau vor?

Shig ist spezialisiert auf interaktives Live-Streaming. Im Laufe der Jahre hat sich die Qualität des Live-Streamings kontinuierlich verbessert. Anfänglich betrug die Verzögerung zwischen der Videoaufnahme und dem Live-Stream etwa 30 Sekunden, manchmal sogar mehr. Heutzutage sind sogar Ultra-Low-Latency-Streams verfügbar, die Verzögerungen von unter 3 Sekunden ermöglichen.  Die geringen Verzögerungen eröffnen neue Möglichkeiten für eine direkte Interaktion mit dem Live-Stream. Einige dieser Interaktionsmöglichkeiten sind bereits auf Plattformen wie Twitch, X und TikTok verfügbar. Obwohl diese Funktionen sich noch in der Entwicklungsphase befinden, ermöglichen sie bereits Community-Mitgliedern, als Gast live in den Stream einzusteigen. Zudem können Streamer*innen über mehrere Live-Kanäle interagieren. Mit Shig möchte ich diese Möglichkeiten auch im Fediverse verfügbar machen.

Was unterscheidet Shig von vergleichbaren Alternativen?

Shig basiert auf ActivityPub und ist speziell für das Fediverse entwickelt worden, was es deutlich von anderen Lösungen abhebt. Ähnlich wie Posts und Kommentare über ActivityPub zwischen Mastodon-Instanzen verteilt werden, ermöglicht Shig durch die Nutzung von ActivityPub das Verteilen von Live-Streams zwischen PeerTube-Instanzen. Dies ist entscheidend, um interaktives Live-Streaming im Fediverse überhaupt erst möglich zu machen.
Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Live-Stream, der von einer*m einzelnen Streamer*in erstellt wird, setzt ein interaktiver Live-Stream auf mehrere Quellen. Zum Beispiel können Streamer*innen von verschiedenen Fediverse-Instanzen zusammen einen gemeinsamen interaktiven Live-Stream erstellen. Meines Wissens nach ist Shig der erste Service, der interaktives Live-Streaming auf Basis von ActivityPub ermöglicht.

Wie funktioniert Shig technisch?

Beim Betrachten der Shig-Lobby heute mag man stark an ein Videokonferenzsystem erinnert werden. Doch der Schein trügt, denn die zugrunde liegende Technologie geht einen völlig neuen Weg. Herkömmliche Videokonferenzsysteme werden in der Regel über einen zentralen Server gesteuert und koordiniert. Shig hingegen ist hochgradig dezentral und kommt vollständig ohne einen zentralen Server als Koordinator aus. Allein das ActivityPub-Protokoll wird genutzt, um die Teilnehmer*innen eines interaktiven Streams zu koordinieren.
Die Ideen hinter den Protokollen WHIP/WHEP sind es, die die Realisierung von Shig ermöglichen. Vereinfacht gesagt wird durch einen simplen HTTP-Request ein Video-Stream erzeugt oder angefordert, ähnlich wie das Ansehen eines Videos im Webbrowser durch Aufrufen einer Webseite oder das Hochladen einer Videodatei auf einen Server. In dieser Vorstellung laden Streamer*innen ihren Live-Stream auf die Instanz ihrer Wahl hoch. Durch ActivityPub weiß Shig dann, wo sich der Originalserver des Live-Streams befindet und auf welchen Instanzen sich seine Gäste befinden, und verteilt den Stream entsprechend dorthin.

Kann das Fediverse beispielsweise dazu beitragen, die extremen Serverlasten und die Umweltbilanz beim Streaming zu reduzieren?

Das Fediverse bietet politischen Entscheidungsträger*innen einen Handlungsspielraum, da es aus zahlreichen kleinen Betreibern besteht. Um die Umweltbilanz des Live-Streamings zu verbessern, ist es entscheidend, vor allem bei den technischen Infrastrukturen anzusetzen. Das Umweltbundesamt hat 2020 eine Handlungsempfehlung für nachhaltiges Cloud Hosting herausgegeben.
Bei entsprechendem politischem Willen bietet sich hier die Chance, die Umweltbilanz von Live-Streams zu verbessern, indem Administrator*innen von Streaming-Servern bevorzugt energieeffiziente Cloud-Anbieter wählen. Dies kann durch politische Regulierung und die Förderung von Rechenzentren erreicht werden, die mit nachhaltiger Energie betrieben werden, ihre Abwärme nutzen und Möglichkeiten zur Datensparsamkeit und Ressourcenschonung bieten.
Das Fediverse ist äußerst flexibel, da die Server von privaten Einzelpersonen bis hin zu mittelständischen Unternehmen gehostet werden. Durch die Verwendung von Open-Source-Software ist ein Umzug der Server leicht möglich. Daher würde das Fediverse vergleichsweise schnell auf derartige Anreize reagieren. Und da Hostingkosten im Fediverse generell eine wichtige Rolle spielen, versuchen viele Hoster, Kosten zu minimieren, indem sie Software nur dann laufen lassen, wenn sie benötigt wird. 

Ist die Idee, Streaming im Fediverse anbieten zu wollen angesichts der großen Serverlasten nicht völlig verrückt? Warum tust du dir das an?

Live-Streaming spielt eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Meinungen und dem Austausch von Ansichten. Insbesondere für die Demokratie, die auf einem freien Meinungsaustausch basiert, ist seine Bedeutung von großer Wichtigkeit und sollte nicht unterschätzt werden.
Das Fediverse ist ein freies, unabhängiges und demokratisches Applikationsnetzwerk. Es ist frei von Einflüssen durch Suchalgorithmen oder User-Tracking und besteht aus unabhängigen Akteur*innen und Content-Erzeuger*innen. Dadurch bietet es die Möglichkeit, die Nutzenden aktiv an der Erstellung von Inhalten teilhaben zu lassen und stärkt so den demokratischen Charakter des Netzwerks.
Um das Fediverse weiter zu stärken,  den Wert von Inhalten (wieder) zu steigern und für Vielfalt in den Medien-Anbietern zu sorgen, ist es sinnvoll, Technologien für das Fediverse zu entwickeln und auch die Kosten für Server zu tragen, so verrückt das auch klingen mag. 
 

Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich durch die Struktur des Fediverse?

Das Fediverse ist durch seine Dezentralität und die Vielzahl unabhängiger Instanzen geprägt, die Inhalte untereinander austauschen. Dieser Austausch erfolgt in der Regel innerhalb weniger Sekunden und funktioniert gut für Posts, Kommentare, Fotos und mittlerweile auch Videos. Im Gegensatz dazu sind Live-Streams kontinuierliche Datenströme, bei denen ein zeitkritischer Austausch von entscheidender Bedeutung ist. Eine Verzögerung von nur wenigen Sekunden kann signifikant sein, und bei einer Unterbrechung des Datenflusses muss dieser neu organisiert werden. Aufgrund dieser Komplexität existiert derzeit kein Austausch von Live-Streams zwischen unabhängigen Fediverse-Instanzen. Diese besondere Herausforderung hat Shig jedoch aufgegriffen und sich ihr gestellt.
 

Wie kann Shig dazu beitragen, die Reichweite und den Datenschutz beim Streamen zu verbessern?

Da andere Ansätze als Shig außerhalb des Fediverse ohne ActivityPub erfolgen, erfordern sie zumindest das Teilen von Links zu externen Diensten. Dies zwingt Nutzer*innen dazu, ihre Fediverse-Instanz zu verlassen und mehr persönliche Informationen preiszugeben als ihre Fediverse-Identität. Shig schließt diese Datenschutzlücke, da Nutzende ihre Instanz nicht mehr verlassen müssen, um am Live-Stream teilzunehmen.
Instanz-übergreifende interaktive Live-Streams bilden die Grundlage für Reichweiten verbessernde Features: Zum Beispiel Stream-Raids, Live-Stream-Recommendations, also kurze Videos  von Events anderer Streamer*innen oder Werbung ohne User-Tracking. Mit Shig sind neben dem Stream auch Instanz-übergreifende Live-Text-Chats möglich, die es bisher leider noch nicht gibt.

Für wen lohnt sich der Einsatz von Shig?

Shig ermöglicht eine Vielzahl interaktiver Live-Streaming-Formate. Ein einfaches Beispiel sind Streamer*innen, die Live-Interaktionen mit ihrem Publikum suchen, wobei das Multi-Guest-Feature von Shig solche Interaktionen ermöglicht.
Shig bietet eine integrierte Streaming-Lobby, wodurch Streamer*innen ohne die Notwendigkeit von OBS oder anderer Software direkt starten können. So ist kein komplexes Setup nötig.
Administrator*innen haben die Möglichkeit, ihre Instanzen mit anderen zu skalieren, was zwar nicht unbedingt die Reichweite erhöht, aber die Durchführung von Live-Interaktionen und Skalierungen über verschiedene Instanzen hinweg ermöglicht.
Ein interessanter Anwendungsfall sind permanente Live-Streams, bei denen Videoschleifen oder Videolisten gestreamt werden. Durch das Speichern der Videos auf dem Server wird die Haus-Internetleitung nicht belastet.
Shig eignet sich auch gut für Live-Radio-/Video-Podcasts, bei denen Audiodateien oder andere Videoquellen auf dem Server abgelegt und in der Lobby mit dem Moderation-Stream gemixt werden.Insgesamt ist Shig für eine Vielzahl von Live-Streaming-Formaten geeignet, die sich aus verschiedenen Quellen zusammensetzen, wobei der Vorteil besteht, dass die Quellen direkt aus dem Fediverse stammen können.


Enrico hat jahrelange Erfahrungen mit Open Source und Video-Streaming. Neben der Konzeption und Entwicklung von datenschutzfreundlichen und dezentralen Video-Konferenzsystemen hat er unter anderem an Element mitgearbeitet.

Dezentral Streamen mit Shig