Open Source Investigation gegen Menschenrechtsverletzungen
Hadi el-Khatib ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation Mnemonic und Gründer des Syrian Archive. Beide Projekte konzentrieren sich auf Open Source Investigation – eine Methodik, die sich immer weiter verbreitet. Wir haben mit Hadi über seine Arbeit, die Vorteile von Open Source Investigation und deren Entwicklung über die letzten Jahre gesprochen.
Was ist Open Source Investigation?
Open Source Investigation (OSI) beschreibt den Prozess des Sammelns, Identifizierens, Archivierens, Überprüfens und Untersuchens von Medien, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. In unserem Kontext nutzen wir OSI hauptsächlich, um Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen aufzudecken.
Wir wollen sicherstellen, dass deren Ergebnisse verwendet werden, um Anwaltschaft (advocacy) und Rechenschaftspflichten (accountabilty) zu stärken. Das ist unser Hauptziel.
Andererseits gibt es den Begriff Open Source Intelligence, um zu beschreiben, was Geheimdienste tun, die Beiträge in sozialen Medien oder öffentlich zugängliche Daten für nachrichtendienstliche Zwecke sammeln. Das ist nicht das, was wir tun – bei uns gibt es ähnliche Arbeitsabläufe, aber zu einem anderen Zweck.
Welche Vorteile bietet die Verwendung von OSI-Tools im Vergleich zu anderen Dokumentationsmethoden?
Das ist sehr wichtig. Wir haben damit begonnen, als wir 2014 unsere Arbeit in Syrien aufnahmen. Damals sahen wir uns bei der Dokumentation von Kriegsereignissen mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Eines dieser Probleme hängt mit der mangelnden Zugänglichkeit zu Orten zusammen, an denen es zu Menschenrechtsverletzungen kam. In vielen Fällen dokumentierten die Zeug*innen diese Vorfälle mit ihren Mobiltelefonen oder Kameras und veröffentlichten die Medien auf Social-Media-Plattformen. In Syrien wurde deutlich, dass wir mit dem arbeiten müssen, was uns zur Verfügung steht, wenn Menschenrechtsverletzungen in Gebieten geschehen, zu denen wir als zivilgesellschaftliche Organisationen keinen Zugang haben – und zu denen auch Institutionen wie die UN keinen Zugang haben. In diesem Fall war das, was verfügbar war, die Dokumentation der Geschehnisse, die auf Plattformen der sozialen Medien veröffentlicht wurde.
Zweitens ermöglichen uns die OSI-Methoden, die Geschehnisse bestimmter Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, da alle Menschen die Freiheit haben, auf Social-Media-Plattformen zu veröffentlichen und ihre eigenen Narrative über die Geschehnisse in bestimmten Situationen zu teilen. In einigen Fällen können wir uns so ein besseres Bild von Menschenrechtsverletzungen machen und erhalten eine vielfältige Dokumentation – eine vielfältige Erzählung. Natürlich müssen wir die Medien noch verifizieren, aber von Anfang an haben wir eine breitere Grundlage für die Dokumentation durch eine vielfältige Gruppe von Menschen. Das war nicht so, bevor die Menschen begannen, Ereignisse in Videos festzuhalten und diese zu teilen.
Der dritte Vorteil ist die Möglichkeit, Zeugenaussagen zu bekräftigen. Die traditionelle Art der Untersuchung besteht in der Befragung von Zeug*innen, Opfern oder deren Familien. Aber die Materialien und die OSI-Workflows geben uns eine andere Art von Beweisen, die zur Untermauerung von Dokumenten oder Zeugenaussagen verwendet werden können.
Außerdem glaube ich, dass der Einsatz von OSI und die Erstellung von Berichten durch verifizierte Medieninhalte nicht nur zu Zwecken der Rechenschaftspflicht beitragen. Es wird zudem sichergestellt, dass die Dokumentation Teil künftiger Prozesse in der Übergangsjustiz wird.
Könntest du eine oder zwei Methoden erläutern, die du häufig anwendest, z. B. wie der Prozess der Verifizierung funktioniert?
Bei OSI arbeiten wir mit öffentlich zugänglichen Inhalten, die entweder auf Social-Media-Plattformen oder auf Websites im Internet gespeichert und veröffentlicht sind. Neben dem Sammeln und Bewahren der Medien besteht unsere Arbeit darin, sie zu verifizieren.
Wir haben verschiedene Techniken, um Medieninhalte zu verifizieren. Im Wesentlichen gibt es die Geolokalisierung, die Chronolokalisierung und die Überprüfung des Datums.
Bei der Geolokalisierung geht es um die Frage: Von wo aus wurde das Medium veröffentlicht? Wir wollen sicher sein, wenn wir sagen, dass ein Medium aus einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region stammt. Deshalb identifizieren wir Landmarken in Videos und vergleichen sie mit denselben Landmarken auf Satellitenbildern. Wir bestätigen also den Inhalt des Videos anhand öffentlich zugänglicher Satellitenbilder.
Wir überprüfen auch das Datum der Videos. Dazu verwenden wir entweder die Metadaten des Videos selbst oder Upload-Datum und -Zeit der Inhalte. Eine weitere Möglichkeit, das Datum zu überprüfen, besteht darin, mit der Quelle oder anderen Zeug*innen zu sprechen. Auf diese Weise erfahren wir mehr über den Inhalt und können die Daten verifizieren. Manchmal stammt das Video von einer Überwachungskamera, die auch Datum und Uhrzeit aufzeichnet – das hilft uns sehr bei der Überprüfung.
Die Uhrzeit können wir bis zu einem gewissen Grad anhand der Metadaten selbst oder mit Hilfe bestimmter Schatten, z. B. von Gebäuden oder Bäumen, verifizieren. Wenn wir bereits das Datum und den Ort des Videos kennen, verweisen diese Schatten auf eine bestimmte Tageszeit, die wir dann schätzen können. Diese Methode wird chronolocation genannt.
Braucht man bestimmte Fähigkeiten, um sich an OSI zu beteiligen?
Ich glaube, dass jede*r einen Beitrag zur OSI leisten kann, solange ihr oder ihm der Prozess und die Arbeitsabläufe klar sind. Die Methoden und Arbeitsabläufe sind recht einfach, und einige der Werkzeuge sind kostenlos erhältlich. Grundlegende Überprüfungen können von allen durchgeführt werden, die eine Einweisung dazu erhalten haben.
Ich habe den Eindruck, dass mit dem Krieg in der Ukraine die Anwendung von OSI und die Berichterstattung darüber in den Medien zugenommen haben – würdest du dem zustimmen? Und woran, denkst du, liegt das?
Wie du weißt, haben wir OSI-Methoden schon lange vor der Invasion in der Ukraine eingesetzt – seit 2014 in Syrien. Wir machen diese Arbeit also schon seit Jahren und in dieser Zeit hat sich eine Art Community darum entwickelt. Am Anfang hatten wir viele Schwierigkeiten, weil es keine klaren Methoden, Arbeitsabläufe oder technische Infrastruktur gab. Das hat die Dinge für uns sehr schwierig gemacht. Es gab keine Anwendungsfälle für die Methode aus der Sicht der Medien oder in der Justiz – deshalb hat es einige Jahre gedauert, bis sich die Arbeit zu dem entwickelt hat, was sie heute ist.
Ich denke, im Fall der Ukraine sind wir jetzt in einem Stadium, in dem Arbeitsabläufe, Standards und Methoden recht klar sind. Es gibt verschiedene solide Organisationen, die im Rahmen ihrer Ermittlungsarbeit seit Jahren mit diesen Techniken arbeiten. Außerdem gibt es mehr und mehr technische Infrastrukturen. Deshalb konnten wir sofort mit der Arbeit beginnen, als Russland vor ein paar Wochen in der Ukraine einmarschierte. In anderen Ländern, mit denen wir gearbeitet haben, war das nicht der Fall: In Syrien war es nicht der Fall, im Jemen auch nicht und im Sudan ganz sicher nicht.
Auch die Politik spielt durchaus eine Rolle dabei, welche Menschenrechtsverletzungen in den internationalen Medien thematisiert werden.
Im Fall der Ukraine gibt es die Erfahrungen und die Community nun schon seit Jahren. Die technische Infrastruktur zur Erleichterung der Arbeit ist so weit, dass wir direkt mit ukrainischen Organisationen zusammenarbeiten können. Und die Leute verstehen den Wert von OSI mittlerweile sehr gut, so dass die Wirkung viel leichter aufgezeigt und hervorgehoben werden kann als zuvor.
Du bist an einer Reihe von Projekten beteiligt. Kannst du erklären, was das Syrian Archive und deine Organisation Mnemonic tun?
Wir starteten das Syrian Archive während des Krieges in Syrien im Jahr 2014. 2017 erhielten wir Funding im Rahmen des Prototype Fund, das es uns ermöglichte, Vollzeit an dem Projekt zu arbeiten.
Unsere Hauptaufgabe bestand damals darin, eine Gegenerzählung zu der Desinformation zu erstellen, die von allen Akteuren dieses Konflikts seit 2011 verbreitet wurde. Wir wollten sicherstellen, dass dieses Narrativ auf Medien basiert, die wir verifizieren konnten – auf der Grundlage von Fakten. Als wir sahen, wie soziale Medienunternehmen aufgrund ihrer Community-Richtlinien mit Medieninhalten auf ihren Plattformen umgingen, beschlossen wir, der Bewahrung der Inhalte Priorität einzuräumen. Denn nur wenn die Inhalte erhalten bleiben, sind sie auch in Zukunft zugänglich und verfügbar.
Dann konzentrierten wir uns mehr und mehr auf die Verifizierung, weil wir sicherstellen wollten, dass wir eine Gegenerzählung anhand von Fakten aufbauen und über klare Methoden und Arbeitsabläufe zur Verifizierung von Medieninhalten verfügen, damit unsere Schlussfolgerungen gut sichtbar und nachvollziehbar sind. Jede*r, die/der die Schlussfolgerung liest, kann nachvollziehen, worauf sie sich stützt.
Ab 2018 begannen mehr und mehr zivilgesellschaftliche Organisationen, diese Art von Arbeit zu schätzen. Wir erhielten eine Anfrage aus dem Jemen, um das Yemeni Archive einzurichten und 2019 dann aus dem Sudan. Die Anfragen kamen alle von Gruppen, die auch dazu beitragen wollten, eine Gegenerzählung zu staatlichen Erzählungen, zu Propaganda und zu Desinformation zu schaffen.
Uns wurde klar, dass wir in der Lage sein mussten, diese Arbeit in einem größeren Rahmen und mit einer anderen Infrastruktur zu leisten. Also haben wir Mnemonic als gemeinnützige Organisation in Berlin registriert. Die Aufgabe von Mnemonic besteht darin, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Anwält*innen dabei zu unterstützen, digitale Informationen, die Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen dokumentieren, effektiv zu nutzen, um etwas gegen die Verantwortlichen in der Hand zu haben. Das ist die Hauptaufgabe unserer Organisation.
Über Mnemonic haben wir auch ein „Rapid Response“-Projekt zur Archivierung von Inhalten aufgesetzt – so haben wir vor einigen Wochen mit der Arbeit in der Ukraine begonnen. Wir planen, auch ein Ukrainian Archive einzurichten, um sicherzustellen, dass die Inhalte an einem Ort zentralisiert werden und von ukrainischen und internationalen Organisationen genutzt werden können, um Lobbyarbeit zu betreiben und die Verbrechen zu dokumentieren, die derzeit geschehen.
Was ist dein persönlicher Zugang zu dem Thema?
Ich habe das Projekt in Syrien begonnen, weil ich von dort stamme und die Korruption und die Menschenrechtsverletzungen aus erster Hand miterlebt habe. Mein Ziel bei der Gründung des Projekts war es, eine Möglichkeit zu haben, Desinformation und Propaganda entgegenzuwirken – eine Möglichkeit, das zu nutzen, was die Menschen vor Ort dokumentieren, und dafür zu sorgen, dass diese Dokumentation in Zukunft verfügbar und zugänglich ist und genutzt werden kann.
Menschen riskieren ihr Leben, um diese Inhalte zu dokumentieren, aber ich bemerkte, dass nur sehr wenig von diesen Inhalten in den Prozessen in Syrien verwendet wurde. Was ich hingegen sehen konnte, war viel Propaganda – ohne Fakten. Ich wollte sicherstellen, dass die Stimmen von Zeug*innen und Opfern gehört und verstärkt werden und dass sie Teil der Prozesse in Syrien sind, die auf Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit im Lande drängen.
Während der Arbeit am Syrian Archive wurde uns klar, dass wir unsere Mission fortsetzen wollen, indem wir das Wissen, das wir in Syrien gewonnen haben, mit anderen teilen. Es sollen nicht alle diesen Prozess von vorne beginnen müssen, denn wir wissen, wie schwierig es ist, ohne klare Arbeitsabläufe und Methoden, ohne Finanzierung, Standards oder technische Infrastruktur.
Wie kann man Mnemonic oder andere Organisationen, die OSI einsetzen, um gegen Desinformation in Kriegen und anderen Konflikten vorzugehen, am besten unterstützen?
Ich denke, das Wichtigste ist, zur Verifizierung beizutragen, denn dafür werden sehr viele Ressourcen benötigt. Es handelt sich um einen manuellen Prozess, deshalb ist es wichtig, so viele Kapazitäten wie möglich zu haben. Außerdem kann die Tech-Community dazu beitragen, dass bessere Werkzeuge und Software zur Verfügung stehen, um den Überprüfungsprozess und die Archivierung von Social-Media-Plattformen zu erleichtern, denn das ist immer eine große Herausforderung. Außerdem können die Menschen durch Spenden einen Beitrag leisten, denn OSI-Methoden sind wie gesagt sehr zeitintensiv – und das kostet immer auch Geld.
Das Interview führte Patricia Leu.
Das Recherchekollektiv Bellingcat bietet Trainings für Menschen an, die sich an Open Source Investigation beteiligen möchten: https://www.bellingcat.com/workshops/
Hier erfahrt ihr mehr über
- Mnemonic: https://mnemonic.org/,
- das Syrian Archive: https://syrianarchive.org/,
- das Yemeni Archive: https://yemeniarchive.org/,
- und das Sudanese Archive: https://sudanesearchive.org/.