20.Jul 2023

No-Code-Plattformen helfen in humanitären Krisen

In Krisensituationen ist es meist nicht möglich, komplexen Code für die gerade benötigten digitalen Werkzeuge zu entwickeln. Hier setzt das Projekt „Erweiterung einer No-Code-Plattform für humanitäre Krisenreaktionen“ an – damit können Organisationen einfach die Software zusammenstellen, die sie brauchen. Ein Gastbeitrag von Ewa Flis und Daniel Spaude.

In humanitären Krisensituationen, wie etwa dem Angriffskrieg gegen die Ukraine oder dem Erdbeben in der Türkei und Syrien Anfang 2023, leisten oftmals Grassroots-Initiativen entscheidende Hilfe. Diese zählen häufig zu den ersten Akteuren, die bei der Betreuung und Versorgung von Menschen in Not tätig werden. In solchen Situationen kann die zügige Implementierung digitaler Lösungen einen bedeutenden Unterschied ausmachen. Allerdings sind Entwickler*innen oft rar und nicht immer sofort verfügbar.

Mithilfe von No-Code-Plattformen können unmittelbar einsetzbare Prototypen für die individuellen Anforderungen auch ohne Entwickler*innen direkt von den Organisationen implementiert werden. Sie können mit der Weiterentwicklung der Prozesse und Anforderungen mitwachsen.

Dank des Prototype Fund konnten wir eine bestehende Open-Source-No-Code-Plattform um Features erweitern, die wir für die Domäne der humanitären Krisenreaktion als besonders relevant erachten.

Was sind No-Code-Plattformen und wie können diese hier helfen?

No-Code-Plattformen ermöglichen es den Anwender*innen bzw. den jeweiligen Expert*innen einer Domäne, ohne Programmierkenntnisse kollaborative Anwendungen schnell und einfach zu erstellen. Bekannte kommerzielle Beispiele sind Airtable und monday.com. Letzteres wurde zum Beispiel erfolgreich für die Registrierung von Geflüchteten und Freiwilligen sowie für die Logistikprozesse bei der Versorgung der Ukraine mit Hilfsgütern eingesetzt.

Die Nutzung von No-Code-Plattformen kann für NGOs ein wichtiger Schritt sein, um ihre humanitäre Arbeit effektiver und agiler zu gestalten. No-Code-Lösungen können dabei auch das Fundament für eine nachhaltige Anwendungsentwicklung legen, wenn später klassische Softwareentwickler*innen die Arbeit fortführen. 

Wenn die verwendeten Plattformen Open Source sind, kommen weitere Vorteile wie mehr Kontrolle beim Datenschutz, Kosteneffizienz und die leichtere Erweiterbarkeit hinzu. 

Es gibt bereits vielversprechende Open-Source-No-Code-Software, die jedoch durch die Integration zusätzlicher, direkt verwendbarer Features für NGOs noch attraktiver gemacht werden könnte. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, eine dieser Plattformen zu erweitern und uns dabei für die Plattform NocoDB entschieden, da sie zum Zeitpunkt des Projektstarts in Bezug auf Reife und Funktionsumfang am weitesten fortgeschritten war. 

Was ist NocoDB? 

NocoDB orientiert sich am kommerziellen Vorbild Airtable. Am Anfang der Umsetzung eines Projektes steht dabei das einfache Erstellen von Tabellen mit spezialisierten Datentypen und das Abbilden von Beziehungen zwischen diesen Tabellen. 

Es können anschließend zusätzlich verschiedene Arten von Ansichten auf die erzeugten Tabellen und deren Daten hinzugefügt werden: momentan sind das neben der klassischen Tabellenansicht auch eine Galerie-Ansicht, eine Kanban-Ansicht und – ganz zentral – eine Formularansicht, womit schnell entsprechende Eingabemasken für das Anlegen neuer Datensätze erstellt und geteilt werden können. 

Die Plattform ist sehr flexibel: sie erzeugt z.B. automatisch für jede Tabelle eine entsprechende REST-API, um die Plattform als Backend verwenden zu können. Darüber hinaus können auch andere Dienste wie z.B. Slack oder WhatsApp integriert werden. 

Auf Grundlage unserer positiven Erfahrungen mit der Open-Source-Software Boxtribute, welche seit Jahren bei zahlreichen Organisationen erfolgreich zur Lagerverwaltung und Ausgabe von Hilfsgütern eingesetzt wird, sowie durch den Austausch mit anderen Akteuren aus der humanitären Arbeit, welche direkt in Krisenregionen Arbeit leisten, haben wir uns für folgende Features entschieden: 

  • QR-Code-Unterstützung: Integration eines neuen Spaltentyps und eines in die Anwendung integrierten Scanners. Dies kann beispielsweise bei der Logistik von Hilfsgütern und der Registrierung von Helfer*innen/Geflüchteten in Erstaufnahmeeinrichtungen eingesetzt werden.
  • Interaktive geografische Karten und ein neuer Datentyp für geografische Daten: Diese Funktion kann genutzt werden, um den Bedarf an Hilfsgütern in einer Krisenregion darzustellen.

Um diese neuen Funktionen greifbarer zu machen, möchten wir zwei Szenarien beschreiben, in denen diese hilfreich sein können. 

Obwohl beide Beispiele von realen Anwendungsfällen inspiriert sind, denen wir während unserer User-Research-Phase begegnet sind, sind Tabellenstrukturen vereinfacht und Beispieldaten allesamt frei erfunden, einschließlich der geografischen Datenpunkte.

Szenario 1: Erfassung von Bedarf an humanitären Hilfsgütern und logistische Abwicklung

In diesem Szenario wird NocoDB genutzt, um den Bedarf an Hilfsgütern für Menschen in Krisengebieten effizient zu erfassen und die logistische Abwicklung der Hilfsaktionen zu unterstützen. 

Am Anfang erstellt die NGO innerhalb weniger Minuten die grundlegende Tabellenstruktur zur Erfassung von Hilfsgüter-Bedarfen.

Demonstration des Login Prozesses und der Erstellung einer Tabellenstruktur mit mehreren Datentypen.

Damit diese Erfassung einfach und ohne Umwege direkt durch die betroffenen Menschen erfolgen kann, wird im zweiten Schritt für die neue Tabelle eine Formularansicht erstellt. 

Neben Informationen zu den betroffenen Menschen (Gruppengröße, Anzahl Kinder, medizinische Besonderheiten etc.) und den eigentlichen Bedarfsinformationen (z.B. “Wasser für 5 Tage” etc.), muss auch der Ort, an welchem die Übergabe erfolgen soll, erfasst werden.

Demonstration der Erstellung eines Abfrageformulars für verschiedene Hilfsgüter mit der Möglichkeit, direkt Geo-Koordinaten abzufragen.

Der von uns entwickelte, neue Geodaten-Spalten-Typ erlaubt es hierbei, die Standortinformationen zu speichern, die automatisch anhand der GPS-Informationen des Mobilgeräts ermittelt werden können.

Demonstration des Ausfüllens des zuvor erstellten Formulars.

Alle erfassten Daten können nun im dritten Schritt nicht nur tabellarisch angezeigt und z.B. hinsichtlich ihres Bearbeitungsstatus von der Organisation geändert werden, sondern dank der neuen Kartenansicht können die Bedarfe auch geografisch schnell und einfach dargestellt werden. Anhand der Filterfunktion können so z.B. schnell die regionalen Hotspots an noch nicht erfüllten Bestellungen/Bedarfen angezeigt werden.

Demonstration der Darstellung der eingegangenen Anfragen. Datensätze werden auf einer Karte dargestellt und können nach verschiedenen Attributen gefiltert werden.

Im Rahmen der logistischen Abwicklung wiederum, wie z.B. der Verfolgung und Statusaktualisierung von Bestellungen, kann die direkte Unterstützung von QR-Codes sowie der integrierte QR-Scanner eine wichtige Rolle spielen. So kann beispielsweise der initial angebrachte QR-Code eines Paketes oder einer Palette beim Verladen in den Transporter sowie bei der eigentlichen Übergabe an die Betroffenen gescannt werden. Dadurch öffnet sich sofort – ohne umständliche manuelle Suche – der entsprechende Datensatz in NocoDB und der Bestellstatus kann einfach aktualisiert werden.

Demostration der Exportfunktion von zugehörigen QR-Codes zur einfachen Verfolgung von Paketen.

Szenario 2: Refugee Welcome Center

In diesem Szenario wird NocoDB eingesetzt, um die Registrierung von Geflüchteten in einer Erstaufnahmeeinrichtung effektiver zu gestalten und den Überblick über freie Betten sowie Bewohner*innen-Statusinformationen zu verwalten. Jede*r Bewohner*in erhält ein QR-Code-Armband mit einer eindeutigen ID, welche mit dem persönlichen Datensatz in NocoDB verknüpft ist.

Beim Thema persönliche Daten ist zu erwähnen, dass diese, wie sämtliche Daten innerhalb von NocoDB, in einer eigenen internen Datenbank liegen und nur autorisierte Nutzer*innen darauf Zugriff haben.

Zunächst wird eine übersichtliche Tabellenstruktur erstellt, die grundlegende persönliche Informationen wie z.B. Name, benötigte medizinische Unterstützung, Herkunftsort und Zielort, etc. erfasst.

Demonstration einer Erstellung einer Tabelle für eine Erstaufnahmeeinrichtung von Geflüchteten.

Anschließend wird wieder eine ansprechende Formularansicht für den Registrierungsprozess erstellt und mit den Helfer*innen im Center geteilt, die für die Registrierung der Geflüchteten zuständig sind. Die Spalte welche die QR-ID des Armbandes speichert, kann nun  im Formular ebenfalls direkt durch den integrierten QR-Scanner automatisch und zuverlässig ausgefüllt werden.

Für später anfallende Aktualisierungen, wie beispielsweise das temporäre oder dauerhafte Auschecken eines Gastes, kann der QR-Scanner erneut verwendet werden. So können die entsprechenden Datensatzreihen unkompliziert und schnell geöffnet und bearbeitet werden.

Demonstration des Aufrufs des Datenbankeintrags mithilfe eines gescannten QR-Codes.

Fazit

Beide Beispiele – wenn auch vereinfacht dargestellt – sollten zeigen, dass mit zwei aus Nutzer*innensicht vergleichsweise einfachen Erweiterungen von NocoDB dessen Potential für NGOs im humanitären Bereich erheblich gestärkt werden kann. 

Momentan sind einige der Features noch nicht offiziell verfügbar, aber relativ unkompliziert als Beta-Funktionen aktivierbar. 

Wir freuen uns über jede Gelegenheit, weiteren interessierten Akteur*innen vor allem aus dem NGO-Umfeld das Potential von NocoDB und insbesondere unsere neu entwickelten Features im Rahmen einer personalisierten Demo zeigen zu können und auch weiteres Feedback hinsichtlich nächster Schritte zu erhalten (bei Interesse bitte eine kurze Mail an das Team mit dem Betreff “Interesse an Demo NocoDB für NGOs”).

 Außerdem möchten wir nochmals auf das Projekt Boxtribute hinweisen, welches eine spezialisierte und seit langem bewährte Open Source Software für NGOs bereitstellt, welche die Lagerverwaltung und datenschutzkonforme Ausgabe von Hilfsgütern vor allem an geflüchtete Menschen erheblich vereinfacht. Boxtribute wird – auch Dank des Prototype Fund – aktiv weiterentwickelt.

Das Projekt Erweiterung einer No-Code-Plattform für humanitäre Krisenreaktionen ist Teil der 12. Förderrunde des Prototype Fund.

No-Code-Plattformen helfen in humanitären Krisen