12.Jul 2023

Der Weg zur barrierefreien Software


Dieser Artikel soll als Einstieg in das Thema barrierefreies Entwickeln dienen. Die ausführliche, tiefergehende Version mit einer Anleitung zum technischen Einstieg findest du in unserer Knowledge Base. Viel Spaß beim Lesen.


 

Die Grundlagen der Barrierefreiheit

Barrierefreiheit ist unverzichtbar – auch in der digitalen Welt. Sie ermöglicht es Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und temporären Einschränkungen, Technologien problemlos und in einer Vielzahl von Situationen einzusetzen. Open Source-Software spielt eine zentrale Rolle in unserer digitalen Gesellschaft, und als ihre Entwickler*innen haben wir die Verantwortung, diese für alle zugänglich zu gestalten. Barrierefreiheit in der Softwareentwicklung bedeutet, dass alle Menschen, unabhängig von ihren physischen, sensorischen oder kognitiven Fähigkeiten, Anwendungen problemlos nutzen können.

Verschiedene Menschen bevorzugen unterschiedliche Ein- und Ausgabegeräte oder sind wegen einer Behinderung sogar auf diese angewiesen. Dabei ist es egal, ob die Interaktion über eine grafische Oberfläche, eine Website oder ein Command Line Interface (CLI) geschieht. Es gibt verschiedene Eingabegeräte wie die Tastatur, die Maus, den Touchscreen oder Tools, die per Sprachsteurerung bedient werden. Die Ausgabe kann über einen Bildschirm, ein taktiles Braille-Display oder per Sprachausgabe mit einem Screenreader erfolgen. Wichtig hierbei ist, dass eine Software so gestaltet sein muss, dass sie mit all diesen Eingabegeräten und Ausgabemedien funktioniert und gleichzeitig möglichst einfach zu verwenden ist. Dabei sind alle diese Geräte und Oberflächen nicht per se mehr oder weniger barrierefrei. Es kommt dabei immer und vor allem auf die Software und deren Nutzer*innen an.

Wie interagieren behinderte Menschen mit dem Computer?

Viele nutzen sehr spezifische Hilfsmittel mit ihrer eigenen, persönlichen Konfiguration. Nutzer*innen von Sprachausgabe navigieren beispielsweise mit der Tastatur oder verschiedenen Finger-Gesten zwischen den Elementen in einer Oberfläche, die sie dann jeweils vorgelesen bekommen. Dabei können sie ein User Interface anhand bestimmter Merkmale schneller erfassen und erkunden. Diese Merkmale sind nicht festgelegt – Hauptsache ist, sie sind eindeutig und konsistent: Überschriften, Links, Buttons, Textfelder, Bilder, Tabellen, Formulare etc.

Viele Menschen mit motorischen Behinderungen nutzen diese Art der Navigation. Sie können beispielsweise nur sehr schwer oder gar nicht mit der Maus oder dem Touchscreens arbeiten und sind auf die Tastatur angewiesen. Aber auch diese könnte eine zu große Präzision erfordern, weshalb einige Menschen speziellere Eingabegeräte verwenden, die auf ihre eigene Behinderung angepasst wurden. Zum Beispiel: Eye Tracking, Head Tracking, Sprach-Erkennung, Joysticks, wenige große physische Tasten, die Controller von Spielkonsolen oder ein Saug-Blase-Schalter. Darüber hinaus gibt es noch andere assistive Technologien, wie Screen Magnifier, die den Bildschirminhalt vergrößern, Kontrast-Anpassungen vornehmen oder Farben dynamisch umwandeln können.

Die Prinzipien und Guidelines der Barrierefreiheit

Um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung besser zu verstehen und zu berücksichtigen, sollte man sich mit den Prinzipien der Barrierefreiheit bekannt machen.
Diese sind
1. Wahrnehmbarkeit: Alle Informationen und Bedienelemente müssen für alle Menschen wahrnehmbar sein.
2. Bedienbarkeit: Alle Bedienelemente sollen per Tastatur und assistiven Technologien erreichbar sein und intuitiv nach bekannten Regeln funktionieren.
3. Verständlichkeit: Sowohl die Bedienelemente als auch die Informationen müssen verständlich sein.
4. Robustheit: Wir müssen sicherstellen, dass die Software für aktuelle und auch zukünftige Nutzer*innengruppen mit verschiedenen assistiven Technologien funktioniert.

In den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des W3C gibt es für alle diese Prinzipien sehr detaillierte Richtlinien, die auch konkrete Beispiele und Prüfkriterien enthalten. Die WCAG ist ein sehr guter Standard, der inzwischen in die Gesetzgebung in vielen Ländern eingeflossen ist. Wer sich längerfristig mit Barrierefreiheit auseinandersetzen möchte, sollte Zeit investieren, damit vertraut zu werden. Aber nicht nur die WCAG ist ein wichtiger Standard sondern auch die Dokumentationen und Standards der Betriebssysteme und GUI-Frameworks, die verwendet werden.
Für Web-Anwendungen gibt es beispielsweise die WAI-ARIA Spezifikation, die eine Reihe von Rollen, Eigenschaften und Zuständen definiert, die für die Barrierefreiheit von Web-Anwendungen wichtig sind und assistive Technologien mit zusätzlichen Informationen über die Struktur einer Bedienoberfläche versorgt.

Dabei gilt es, immer im Auge zu behalten, dass es nicht nur um die technische Umsetzung von Standards geht, sondern vor allem darum, wie echte Nutzer*innen die Software am Ende tatsächlich verwenden. Wenn möglich sollte man Menschen mit Behinderung an der Entwicklung beteiligen – so fallen viele Barrieren schon früh auf und können direkt behoben werden. Der Test der Barrierefreiheit sollte immer von speziell dazu ausgebildeten Menschen erfolgen, idealerweise auch von solchen, die aufgrund einer Behinderung im täglichen Leben selbst auf assistive Technologien angewiesen sind.

Neben der technischen Umsetzung der Barrierefreiheit ist es auch wichtig, diese zu proaktiv kommunizieren. Das kann beispielsweise über eine Dokumentation, eine Website oder eine Release-Note geschehen. In der Kommunikation um dieses Thema gilt es außerdem, immer absolut ehrlich zu sein und typische Marketing-Relativierungen zu vermeiden. Auch hier müssen die Prinzipien der Barrierefreiheit eingehalten werden. Das bedeutet konkret: Informationen klar und einfach formulieren, leicht auffindbar sein und sich immer auf den aktuellen Stand der Software beziehen. So bleibt auch die Kommunikation barrierefrei.

Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe

Abschließend gilt: Digitale Barrierefreiheit ist nicht nur ein Konzept oder eine Anforderung – sie ist ein Wegbereiter für Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe. Durch die Schaffung barrierefreier Software ermöglichen wir nicht nur Menschen mit Behinderungen, ein großes Maß an Selbstbestimmung zu erlangen und aktiv an unserer Gesellschaft teilzunehmen. Sie können so kommunizieren, Informationen suchen, Dienstleistungen nutzen, sich weiterbilden und ihrer Arbeit oder Freizeit nachgehen – all das mit der gleichen Leichtigkeit und Bequemlichkeit wie alle anderen auch.


Zur Autorin

Casey Kreer ist Beraterin für digitale Barrierefreiheit und Software-Entwicklerin. Sie ist seit ihrer Geburt sehbehindert und nutzt assistive Technologien, um mit dem Computer zu arbeiten. Sie arbeitet als Freiberuflerin für verschiedene Kund*innen und Projekte, die gute und inklusive Medien-Angebote schaffen möchten. Dafür vermittelt sie in Workshops und Schulungen das notwendige Wissen oder schreibt Gutachten über Barrieren in bestehender Software. (conesible.de)

Der Weg zur barrierefreien Software