Civic Tech: Einblick für alle
Noa Tamir und Tobias Sterbak entwickeln in der 10. Runde des Prototype Funds das Tool Law in Progress. Wir haben sie gefragt, wie sie darauf gekommen sind, warum Probieren bei Civic Tech oft über Studieren geht und was Deutschland von dieser Mentalität lernen kann.
Worum geht es bei Law in Progress?
Tobias Sterbak: Bei Law in Progress geht es im Wesentlichen darum, die laufenden Gesetzgebungsverfahren im Parlament transparenter zu machen. Wir versuchen, etwas aufzubauen, das Menschen, die über parlamentarische Prozesse recherchieren oder berichten, unterstützt, indem wir ihnen den Zugang zu juristischen Ressourcen erleichtern.
Noa Tamir: Wenn man aktuell die Änderungsgesetzentwürfe selbst lesen und verstehen muss, ist das ziemlich mühsam – selbst für Leute, die Jura studiert haben oder im Journalismus arbeiten. Wir wollen die Veränderungen leichter sichtbar machen, damit sie sich auf die Interpretation dieser Änderungen konzentrieren können. Die meisten Forscher*innen oder Journalist*innen wollen nicht nur die Erklärungen der Gesetzgeber sondern auch den Wortlaut des Gesetzes eigenständig lesen und verstehen. Deshalb ist es für sie wichtig, den Originaltext zu lesen. Im Moment muss jede Person, die das tun will, die Änderungen im Text einzeln nachverfolgen. Wir wollen eine Quelle bereitstellen, die diese Arbeit einmal erledigt, so dass alle sie nutzen können.
Was war eure Motivation zu dem Projekt?
Tobias: Wir hören beide den Podcast „Lage der Nation“ und Anfang des Jahres 2021 gab es mehrere Folgen, in denen sich die Moderatoren über den Prozess der „Änderungsgesetzentwürfe“ beschwerten. Wir fanden diesen Prozess auch problematisch und dachten, dass wir dieses Problem wahrscheinlich lösen können. Wir kannten den Prototype Fund und haben uns dann mit der Idee beworben.
Warum ist es wichtig, dass die Änderungen der Gesetze für alle zugänglich sind?
Tobias: Vielleicht brauchen wir hier eine Art Disclaimer: Zu sagen „zugänglich“ und „für alle“ sind schon starke Aussagen, denn man braucht einige grundlegende juristische Kenntnisse, um einen Gesetzestext überhaupt zu verstehen. Abgesehen davon ist es aber immer noch viel einfacher, den bearbeiteten Text zu lesen als die „Änderungsgesetzentwürfe“.
Noa: Es ist wichtig für die Öffentlichkeit zu wissen, wie Gesetze gemacht werden. Und je schneller Journalist*innen sehen können, was an einem Gesetz geändert wird, desto schneller können sie die Öffentlichkeit informieren, sodass diese reagieren kann. Auch für Forscher*innen, die versuchen, die Veränderungen im Laufe der Zeit und in größerem Maßstab zu untersuchen, kann unser Tool von Nutzen sein.
„Wenn Regierung und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, können sie sich gegenseitig helfen, viel mehr zu erreichen.“
Der neue Koalitionsvertrag sieht endlich vor, dass der Gesetzesänderungsprozess von Seiten der Regierung transparent vonstatten gehen soll – was haltet ihr davon?
Noa: Für mich ist Transparenz im Allgemeinen ein sehr großes Thema und ich bin froh, dass dieses Thema von der Koalition aufgegriffen wird. Ich wünschte, es würde noch mehr getan, aber es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Wir versuchen mit jemandem in Kontakt zu treten, der an dieser Sache beteiligt ist. Es wäre spannend zu sehen, wo sie stehen, und uns miteinander auszutauschen, denn wir arbeiten ja schon länger mit dem Thema – und ich bin sicher, in der Regierung ist die Idee auch nicht neu. Wir wünschen uns, dass die offizielle Lösung ein bisschen mehr beinhaltet als „Hier ist der Text, druckt ihn aus“ und dann kommt nur ein weiteres PDF dabei heraus. Wir haben versucht, etwas zu entwickeln, das ein bisschen technischer, automatisierbar und maschinenlesbar ist, sodass die Software für mehrere Zwecke genutzt werden kann. Wenn also jemand mit uns über Law in Progress sprechen möchte – sehr gern!
Law in Progress kann als klassisches Civic-Tech-Projekt bezeichnet werden: Menschen aus der Zivilgesellschaft entwickeln Tools und Infrastruktur, die die Beziehung zum Staat verbessern, indem beispielsweise Interaktion vereinfacht wird. Wie kommt es, dass Bürger*innen Tools entwickeln, nicht der Staat?
Noa: Ich denke nicht, dass das unbedingt schlecht ist. Ich würde mir aber wünschen, dass der Staat die digitale Infrastruktur zur Verfügung stellt, damit Civic Tech Tools entwickelt werden können. Die Zivilgesellschaft verfügt über viel Know-how und kann maßgeschneiderte Tools für die spezifischen Bedürfnisse kleiner Communities entwickeln, da sie deren Bedürfnisse am besten kennt. Aber nur die Regierung kann unschätzbare digitale Infrastruktur und Informationen “top-down” bereitstellen. Wenn Regierung und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, können sie sich gegenseitig helfen, viel mehr zu erreichen. Als Immigrantin habe ich vielleicht eine andere Perspektive darauf, wie diese Dinge an verschiedenen Orten funktionieren. Aber Civic Tech gibt es überall – und es ist notwendig. Ich finde es sehr gut, dass es Menschen gibt, die sich engagieren und aktiv werden und ich hoffe, dass der öffentliche Sektor und die Regierung auch in Zukunft auf sie eingehen werden.
Noa, du sagtest, als Immigrantin hast du eine andere Perspektive in Bezug auf Civic Tech. Kennst du Beispiele von Ländern, in denen der Staat bei der Entwicklung der digitalen Infrastruktur aktiver ist?
Noa: Ich würde sagen, es gibt überall Civic Tech, aber in anderen Ländern ist die Digitalisierung viel schneller vorangeschritten und es gibt dort viel mehr Tools. Einige Dinge scheinen mir hier einfach langsam zu passieren, was die digitale Infrastruktur und die Verfügbarkeit von Tools und Lösungen angeht… Die Unterschiede in einigen Bereichen sind eklatant, sowohl was die Regulierung als auch was die digitale Infrastruktur betrifft. Ich denke, dafür gibt es viele Gründe, denn jedes Land und jede Gesellschaft steht vor anderen Herausforderungen.
Tobias: Deutschland scheint aus irgendeinem Grund immer noch besonders ängstlich gegenüber der Digitalisierung zu sein und manche Leute denken immer noch, es sei „cool“, wenn sie nicht wissen, wie das Internet funktioniert – oder wenn Regierungsvertreter*innen sagen, das Internet sei “Neuland” für sie. Wenn man sich für Digitalisierung einsetzt, kann man so etwas nicht sagen.
Noa: Aber es gibt auch viele Sicherheitslücken in den Ländern, die schnell bei der Digitalisierung waren.
Tobias: Das stimmt. Es gibt immer einen Kompromiss zwischen „exploration” und “exploitation“.
Noa: Ich glaube, dass diese verschiedenen Perspektiven es einem ermöglichen, die Dinge auf eine andere Art und Weise zu sehen – aber nicht notwendigerweise auf eine wertende Art und Weise. Ich vermisse einfach ein paar digitale Tools, die ich früher schon benutzt habe, daher habe ich diese Erwartungshaltung.
„Man muss sich darüber im Klaren sein, dass manches schief geht. Die entscheidende Frage ist: Was lernt man daraus?“
Ich würde zustimmen, dass es sich in Deutschland manchmal anfühlt, als ob es eine gewisse Angst vor der Digitalisierung gibt. Die Argumente, die damit einhergehen, sind dabei nicht unbedingt logisch begründet. Es gibt diese ganze Diskussion um Datensicherheit, die sehr wichtig, aber oft auch eine Art Killerargument ist. Leute sagen: „Wir müssen persönliche Daten schützen“, und das ist das Ende des Projekts, weil viele nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Noa: Man lernt außerdem viel, wenn man Fehler macht. Man kann nicht immer gleich alles richtig machen, aber das ist kein Grund Angst zu haben! Und es bedeutet nicht, dass man schnell vorgehen und Dinge kaputt machen muss – natürlich sollte man so vorsichtig wie möglich sein. Aber aufgrund der in Deutschland vorherrschenden Mentalität denke ich, dass man potenziell eine Menge richtig machen kann. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass manches schief geht. Die entscheidende Frage ist: Was lernt man daraus?
Tobias: Auf der anderen Seite gibt es zum Beispiel auch eine Menge Dinge, die man digitalisieren kann, ohne dass es irgendwelche Probleme mit dem Datenschutz gibt. Das ist im Grunde das, was wir tun. Bei Law in Progress geht es nur um öffentliche Daten. Wir wollen gar keine persönlichen Informationen.
Wenn schon nicht der Staat selbst Civic-Tech-Entwicklungen vorantreibt, sollte er Privatpersonen oder Vereine, die das tun, auf andere Weise als bisher unterstützen?
Noa: Nun ja, der neue Koalitionsvertrag setzt auf Open Source, das finde ich schon mal großartig. Aber wer soll das alles bezahlen? Wo ist die langfristige Finanzierung? Der Prototype Fund kann nur ein paar Projekte finanzieren – ich wünschte, es gäbe viel mehr Mittel und auch einen anderen Umfang. Größere Open-Source-Projekte bringen viele Herausforderungen mit sich, und es wäre schön, wenn es dafür mehr Unterstützung gäbe. Eine spezielle Arbeitsgruppe, die z. B. darüber nachdenkt, welche Projekte gebraucht werden, Investitionen entsprechend plant und auch Unterstützung auf Managementebene anbietet, wäre toll, denn die Entwicklung von Open-Source-Software ist kein typischer Vollzeitjob.
Tobias: Ich wünschte, der Staat würde verstehen, dass digitale Infrastruktur und Civic Tech Teil einer notwendigen öffentlichen Infrastruktur sind. Es ist wirklich schwer, Open-Source-Software langfristig zu pflegen, wenn es keine Finanzierung gibt. Außerdem ist es nicht einfach, auf dem Laufenden zu bleiben und zu wissen, welche Art von Finanzierung es gibt. Viele Projekte würden von einer langfristigen Finanzierung sehr profitieren. Unser Projekt ist ziemlich überschaubar, risikoarm und es fallen keine zusätzlichen Kosten für Infrastruktur usw. an, aber es gibt andere Projekte, die zusätzliche Mittel benötigen, um aufrechterhalten werden zu können oder die mit sensiblen Daten arbeiten und dabei Unterstützung benötigen.
Noa: Auch die ganze Backoffice-Seite kann eine echte Herausforderung sein: Ist es notwendig, eine Firma zu haben? Wenn ja, welcher Art? Mindestens ein Viertel der Arbeit als Entwickler*in besteht darin, herauszufinden, wie man das macht. Für manche Leute kann das ein großes Hindernis sein. Wenn es einen Weg gäbe, dies zu umgehen und den Prozess zu erleichtern, z. B. in Form eines Programms, an dem Entwickler*innen teilnehmen könnten, wäre das eine große Hilfe.
Tobias Sterbak ist Data Scientist und Softwareentwickler aus Berlin. Seit 2018 arbeitet er als Freiberufler im Bereich Natural Language Processing. Auf dem Blog www.depends-on-the-definition.com schreibt er gelegentlich über Themen aus dem Bereich Machine Learning und Natural Language Processing. Privat interessiert er sich für Datenschutz, Open Source Software, Remote Work und Hunde.
Noa Tamir ist Data Science Consultant aus Berlin. Seit 2016 organisiert sie Meetups, Konferenzen und andere Aktivitäten für die R- und PyData-Community mit Schwerpunkt auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion.
Das Interview führte Patricia Leu.